Afterwards
Tarik Kiswanson präsentiert eine beeindruckende vielschichtige Installation neuer Arbeiten im Großen Saal. Aspekte der Wurzellosigkeit, der Regeneration und der Erneuerung werden mittels poetischer skulpturaler und architektonischer Gesten kombiniert, in denen sich die Nachkriegsgeschichte mit der gegenwärtigen Erfahrung vermischt. Der 1986 im schwedischen Halmstad geborene Künstler, dessen Familie aus Palästina ins Exil ging, zeigt in seiner künstlerischen Praxis eine Auseinandersetzung mit der Poetik der Métissage: ein Mittel zum Schreiben und Überleben zwischen verschiedenen Bedingungen und Kontexten. Seine breit gefächerte künstlerische Praxis kann als Kosmologie verwandter Begriffs-Familien verstanden werden, die jeweils Variationen von Themen wie Brechung, Multiplikation, Auflösung, Schweben, Hybridität und Polyphonie in ihrer eigenen Sprache erforschen.
Die Idee der Transformation steht im Mittelpunkt von Tarik Kiswansons Werk. Das heißt, wir sehen in seiner bildhauerischen Praxis Ideen der Verschiebung und Metamorphose, der Veränderung und des Wandels, die in ihrer Form statisch dargestellt sind aber in ihrer Wesenhaftigkeit eine Transformation hervorrufen. In Tariks früheren Arbeiten geschah dies oft unter dem Aspekt der Migration. Diese persönliche Erfahrung klingt bis heute nach. In seinen früheren Arbeiten bezog er sich häufig auf seine Familienarchive und -geschichten, sammelte die Scherben dessen auf, was durch die Vertreibung der Familie verloren gegangen war, und bemerkte selbst, wie die Erinnerung mit den Herausforderungen eines neuen Lebens und einer neuen Heimat verblasst. Die neueren Arbeiten dieser Ausstellung befassen sich mehr mit universelleren Ideen der Transformation, wobei er sich auf den Wiederaufbau nach dem Krieg in Europa bezieht und dies mit Formen der Transformation, wie sie in der Natur vorkommen, kombiniert.
Die Kokonskulpturen entstehen aus Tariks Faszination für die Metamorphose einer Raupe in einen Schmetterling, die er in physischer Form mit Vorstellungen von Diaspora, Wachstum, Entropie und Werden verbindet. Ebenfalls offensichtlich in diesen Werken ist die übergleitende Bedeutsamkeit zwischen Ei und Samen, sowie von Leben, Geburt und Tod. Diese Werke entstanden zunächst aus Zeichnungen des Künstlers und wurden dann zu Skulpturen geformt, basierend auf Tariks Körpermaßen. Das kann als eine Art Spiegelung von Körper, Gefühl und Erfahrung gesehen werden. Die Kokons erscheinen wie Hülsen an den Wänden, und erinnern an Science-Fiction-Erzählungen, aber auch an geopolitische Realitäten. Die Werke sind monumentaler und geselliger geworden, auch im Zusammenspiel mit der Architektur. Anstatt eine Vorstellung von etwas Magischem zu evozieren, sieht der Künstler das scheinbare Schweben dieser Arbeiten als ein zentrales Motiv, das auf Wurzellosigkeit hindeutet – als ob man leicht über der Welt und von ihr weg schwebt, wenn man seiner Heimat und kulturellen Identität entwurzelt ist. So hängen diese Kokons an Wänden, stecken in Ecken oder schweben hier scheinbar auf einem Stuhl.
Der Künstler beschäftigt sich in letzter Zeit mit dem Wiederaufbau während der Nachkriegszeit, insbesondere in Frankreich, Deutschland und Österreich, wobei ein Schwerpunkt seiner Forschung auf Nachkriegsmöbeln liegt. Die Stühle in der Ausstellung, die in Österreich produziert wurden und in Frankreich als mobilier sinister oder mobilier de la reconstruction bezeichnet werden, sind ein Beispiel für solche in Massenproduktion hergestellten Einrichtungsgegenstände und Möbel, die für die breite Bevölkerung geschaffen wurden: elegant, einfach, pragmatisch und universell. Es ist ein Zufall, dass ein solcher Stuhl auch in der Direktion des Salzburger Kunstvereins steht und ich diesen während meiner Direktorenzeit neun Jahre lang benutzt habe. Was ich all die Jahre nicht wusste, ist, dass diese Stühle massenhaft im Rahmen des allgemeinen Aufbaus der Gesellschaft nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in Europa hergestellt wurden. Der Künstler bezieht diese Stühle in seine Arbeit ein und rückt damit diesen Zeitraum mit all seinen Sorgen, Anliegen und Erfahrungen der Migration, der Flucht und den Schwierigkeiten der Neuansiedlung in den Fokus. Während die Gesellschaft nach dem Krieg am Rande des völligen Zusammenbruchs stand, taten sich Regierungen, Architekten und Designer zusammen, um den Wiederaufbau der Gesellschaft zu fördern. Der Künstler lässt sich von diesen Geschichten inspirieren und verbindet sie mit seinen Arbeiten.
Zu der Idee der Verwandlung rücken in Tarik Kiswansons Ausstellung auch Vorstellungen davon, was nach einem bedeutenden Ereignis kommt, in den Mittelpunkt. Der Künstler ist sich durchaus anderer Künstler bewusst, die auch aus einer Position der Diaspora herausarbeiten und deren Arbeiten Trauma und die Notwendigkeit von Wiedergutmachung aufzeigen. 2017 haben wir zum Beispiel in der Ausstellung „Invisible Violence“, die ich zusammen mit europäischen Partner:innen kuratiert habe, eine Wandskulptur von Kader Attia gezeigt – einen zerbrochenen Spiegel, der mit Draht wieder zusammengenäht wurde. Diese Ausstellung berührte viele der Themen, die in der aktuellen Ausstellung zu sehen sind, und speziell das Kunstwerk von Kader Attia veranschaulichte wunderbar den Gedanken der Reparatur nach der gewaltsamen Fragmentierung des Selbst und der Gesellschaft. Tariks Arbeit erforscht und zeigt diese Realität ebenfalls, geht aber über die Darstellung einer Reparatur hinaus, um stattdessen Metamorphose und Transformation zu betonen – ein potenziell befreiender statt melancholischer oder traumatischer Ausdruck. Natürlich gehört Tarik mit Mitte dreißig zu einer jüngeren Generation und nimmt sich daher dieser universellen und konstanten Themen aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort her an. Ihm geht es vielmehr darum, wie man traumatische Erlebnisse hinter sich lassen kann, wie man Transformation ermöglicht, indem man die Vergangenheit umarmt und das Trauma seiner Eltern anerkennt. Die Narben und Wunden bleiben von Generation zu Generation bestehen, sie verbinden sich mit der Gegenwart und erzeugen eine Welle der Realität, eine Instabilität in der Form, wie wir sie in seinem gesamten Werk sehen können. Es ist eine zitternde, bebende Identität, nicht fixiert, nicht so wie es die Ideen von Edouard Glissant nahelegen, sondern eine ständige Metamorphose. Tarik verwendet in der Ausstellung auch einen Spiegel, aber dieser hat keine Risse, die repariert werden müssten, sondern er bietet eher eine Deformation des Gesehenen, eine Neuformung des Selbst und des Seins, die immer weitergeht und nie vollständig ist.
In früheren Arbeiten hat Tarik Skulpturen aus poliertem Stahl verwendet, die einen Spiegeleffekt erzeugten und alles um sie herum reflektierten. Diese Skulpturen absorbierten die Architektur und andere Objekte oder Kunstwerke um sie herum und wurden besonders durch die Begegnung mit Menschen ständig aktiviert. Diese Werke waren ästhetisch und konzeptionell formbar, wechselten von einer Konstellation zur anderen, waren jedoch nie stabil, da Besucher:innen oder Umgebungen sie, wenn auch nur für einige Augenblicke, vervollständigten. Seine formalen Anliegen haben sich in jüngster Zeit verschoben, und er sieht sein Werk eher als eine Schwelle an, die hybride Vorstellungen von Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit offenbart, während sie mit der sich verändernden Identität und der zukünftigen Gesellschaft interagiert. Sein Bewusstsein und seine Auseinandersetzung mit traumatischen Geschichten, ob jüngeren oder aktuellen Datums, prägen seine Arbeiten eindringlich, und zeichnen sich beispielsweise unter der Oberfläche der Kokons ab. Seine tiefe Verbundenheit zu seiner palästinensischen Herkunft bleibt in diesen Werken erhalten, das Gefühl von Wurzellosigkeit und das Sein und Werden zwischen mehreren Ländern (Schweden, Frankreich, Palästina) und fünf Sprachen. Dies wird jedoch durch universellere Geschichten und Erfahrungen innerhalb der Ausstellung durch die interagierenden Werke in einen breiteren Konsens gebracht.
Seine persönliche Geschichte von Hybridität, Vertreibung, Sehnsucht und sich verändernder Identität ist stark mit dem Wunsch verbunden, den kollektiven menschlichen Zustand zu erforschen und zu reflektieren. Diesem Impuls liegen viele Möglichkeiten zugrunde, einschließlich hoffnungsvoller Tendenzen zu Wiedergeburt, Transformation und sogar Befreiung aus Trauma, Vertreibung und Entwurzelung. Das Fehlen von Heimat ist in Tarik Kiswansons Werk spürbar, aber sein Interesse gilt auch dem „Danach“. Er ist sich der verschiedenen Epochen der Geschichte sowie wie der geopolitischen Katastrophen, die sich auf das Leben unzähliger Menschen auswirken, sehr bewusst. Es ist zum Teil ein Geschenk seiner Eltern, da das, was sie persönlich erlebt haben, in seinen Werken in vielen Formen auftaucht und sich mit einem breiten Spektrum menschlicher Erfahrungen und Möglichkeiten auseinandersetzt. Text von Séamus Kealy.
Ausstellung kuratiert von Séamus Kealy.
Tarik Kiswanson (*1986 in Schweden) lebt und arbeitet in Paris.
Er ist Gewinner des Marcel-Duchamp-Preis 2023.
Mit freundlicher Unterstützung vom Institut français d’Autriche und der schwedischen Botschaft, Wien.