Eine andere Art von Spiegel
Digitaler Katalog #3

Eine andere Art von Spiegel: Eine physikalische Logik in Noel W Andersons Black Exhaustion | Text von Mirela Baciak
Stellen Sie sich einen Spiegel mit einem horizontalen Schnitt in der Mitte vor, der es Ihnen ermöglicht, sich selbst als gespaltenes Subjekt zu sehen.
Die Frage, was mit uns geschieht, wenn wir ein Bild betrachten, stand und steht im Mittelpunkt vieler Disziplinen: in der Physik, der Psychoanalyse, der Ästhetik, verbunden mit der noch breiteren Frage: Was ist Realität? Der folgende Text ist ein Versuch, in dieses Problem einzutauchen, indem er über die künstlerische Praxis von Noel W. Anderson und über das Konzept der suture nachdenkt. Er wurde anlässlich Andersons Einzelausstellung „Black Exhaustion“ im Salzburger Kunstverein vom 30. September bis 26. November 2023 geschrieben. Er ist auch aus der Perspektive von jemandem geschrieben, der mit Wörtern im Allgemeinen zu kämpfen hat: ihrer Rolle bei der Unterscheidung von Kategorien, wie Substantive darauf bestehen, dass festen Entitäten Beziehungen vorausgehen, wie hartnäckig bestimmte Wörter Gedanken und Gefühle beherrschen, wie gewalttätig sie bei der Definition einer Beziehung zwischen sich selbst und dem Anderen sein können.
Um es vorerst mit den Worten von Jacques Lacan zu formulieren: „Wenn man erst das Wort gefunden hat, das die meisten Fäden im Mycellum um sich versammelt, dann weiß man, dass es das verborgene Gravitationszentrum des fraglichen Begehrens ist [...] der Knotenpunkt, an dem der Diskurs ein Loch bildet.“[1]
Die Frage, was mit uns geschieht, wenn wir ein Bild betrachten, stand und steht im Mittelpunkt vieler Disziplinen: in der Physik, der Psychoanalyse, der Ästhetik, verbunden mit der noch breiteren Frage: Was ist Realität? Der folgende Text ist ein Versuch, in dieses Problem einzutauchen, indem er über die künstlerische Praxis von Noel W. Anderson und über das Konzept der suture nachdenkt. Er wurde anlässlich Andersons Einzelausstellung „Black Exhaustion“ im Salzburger Kunstverein vom 30. September bis 26. November 2023 geschrieben. Er ist auch aus der Perspektive von jemandem geschrieben, der mit Wörtern im Allgemeinen zu kämpfen hat: ihrer Rolle bei der Unterscheidung von Kategorien, wie Substantive darauf bestehen, dass festen Entitäten Beziehungen vorausgehen, wie hartnäckig bestimmte Wörter Gedanken und Gefühle beherrschen, wie gewalttätig sie bei der Definition einer Beziehung zwischen sich selbst und dem Anderen sein können.
Um es vorerst mit den Worten von Jacques Lacan zu formulieren: „Wenn man erst das Wort gefunden hat, das die meisten Fäden im Mycellum um sich versammelt, dann weiß man, dass es das verborgene Gravitationszentrum des fraglichen Begehrens ist [...] der Knotenpunkt, an dem der Diskurs ein Loch bildet.“[1]

Ausstellungsansicht Noel W Anderson. Black Exhaustion, Salzburger Kunstverein 2023. Foto: kunst-dokumentation
Als medizinischer Begriff bezeichnet die suture den chirurgischen Prozess des Verschließens einer Wunde mit Stichen. Lacan, der den Begriff in den psychoanalytischen Diskurs einführte, beschreibt damit die spezifische Beziehung des Subjekts zur symbolischen Sphäre der Sprache und das Bedürfnis, sich durch seinen Diskurs neu zu erfinden und zu vergewissern. Jacques-Alain Miller hat dieses Denken erweitert, indem er die suture als „die Beziehung des Subjekts zur Kette seiner Diskurse“ definierte. „Sie erscheint dort als das Element, das fehlt, in der Form eines Stellvertreters. Denn obwohl es dort fehlt, ist es nicht einfach nur abwesend. Die suture, im weiteren Sinne, die allgemeine Beziehung des Mangels zu der Struktur, deren Element es ist, insofern es die Position des Einnehmens anstelle von etwas impliziert.“[2]
Der Begriff der suture ist von zahlreichen Autoren aus der Psychoanalyse in andere Diskurse übertragen worden. Der Filmtheoretiker Jean-Pierre Oudart versuchte damit zu zeigen, welchen Platz das betrachtende Subjekt durch die Struktur der Filmerzählung einnimmt. Wer weiß, vielleicht hätte Werner Heisenberg zur Erklärung der Unschärferelation in der Physik die suture verwendet, wenn er länger oder Lacan früher gelebt hätte.
Der Begriff der suture ist von zahlreichen Autoren aus der Psychoanalyse in andere Diskurse übertragen worden. Der Filmtheoretiker Jean-Pierre Oudart versuchte damit zu zeigen, welchen Platz das betrachtende Subjekt durch die Struktur der Filmerzählung einnimmt. Wer weiß, vielleicht hätte Werner Heisenberg zur Erklärung der Unschärferelation in der Physik die suture verwendet, wenn er länger oder Lacan früher gelebt hätte.
Eine kleine Abschweifung:
Die klassische Logik erlaubt nur exakte Schlussfolgerungen. Sie setzt die Existenz vollkommenen Wissens voraus und dass das Gesetz der ausgeschlossenen Mitte immer gilt. Das Gesetz der ausgeschlossenen Mitte kann durch die Aussageformel p_¬p ausgedrückt werden. Das bedeutet, dass alles sein oder nicht sein muss. Jede Form der Logik, die sich an das Gesetz der ausgeschlossenen Mitte hält, kann nicht mit Wahrheitsgraden umgehen.

Ausstellungsansicht Noel W Anderson. Black Exhaustion, Salzburger Kunstverein 2023. Foto: kunst-dokumentation
Im Folgenden wende ich mich Andersons Werken zu, wobei ich mir die eingangs gestellte Frage wieder stelle: Was geschieht in mir, wenn ich ein Bild betrachte? In seinem Werk überwiegen Wandteppiche, die entweder auf Leinwand gespannt oder im Raum aufgehängt sind. Seine gewebten Arbeiten basieren auf Fotografien, die er in verschiedenen, teils bekannteren, teils weniger bekannten Archiven gefunden hat und die Mechanismen illustrieren, durch die schwarze männliche Körper als Repräsentanten der Black Performativity erscheinen, in Begegnung mit Behörden oder anderen Machtsystemen oder mit sich selbst. Dadurch erforscht er Systeme, die nicht nur dieses Subjekt konstruieren, sondern es auch umgeben, zusammen mit allen anderen miteinander verbundenen Subjekten.
Was geschieht in mir, wenn ich ein Bild betrachte?
Ein zentrales Werk in Black Exhaustion ist ein gefärbter, gespannter Baumwollteppich, (Hore)Rorschach (Downward Dog) (2019-2023). Es handelt sich um ein Diptychon, ein gespiegeltes Bild, mit einer dünnen vertikalen Lücke, die einen Teil vom anderen trennt. Im Vordergrund befindet sich ein symmetrischer Fleck, ein Tintenfleck, der ein verzerrtes Bild bedeckt. Ich erkenne diesen Fleck aus dem bekannten Rorschach-Test, der projektiven Methode für psychologische Tests, bei der eine Person beschreibt, was sie sieht, wenn ihr ein undefinierter Fleck gezeigt wird. Wenn ich mich über den Fleck hinaus in Andersons Arbeit schaue, sehe ich ein schwarzes Subjekt, dessen Hände auf eine weiße Fläche gelegt sind. Bunte Fäden baumeln von dem Wandteppich und ich habe das Gefühl, einen herausziehen zu wollen.
Noch eine kleine Abschweifung:
Aufgrund des wellenartigen Charakters mikroskopischer Teilchen kann sich ein Objekt im Quantenbereich technisch gesehen an mehr als einem Ort gleichzeitig befinden. Dieser Quantenzustand wird als Superposition bezeichnet. Superpositionen können nie tatsächlich beobachtet werden; alles, was wir sehen, sind die Folgen ihrer Existenz, nachdem einzelne Wellen einer Superposition miteinander interferiert haben. Daher beobachten wir nie ein Atom in seinem unbestimmten Zustand oder an zwei Orten gleichzeitig, da die physikalische Realität erst durch die Messung sichtbar wird und die flüchtige Situation in einen Zustand oder einen anderen festlegt.

Noel W Anderson, (Hore)Rorschach (Downward Dog), 2019-2023, gespannter Baumwollteppich, 250 x 230 cm, courtesy of the artist, NWA Studios und Zidoun-Bossuyt Gallery. Ausstellungsansicht Noel W Anderson. Black Exhaustion, Salzburger Kunstverein 2023. Foto: kunst-dokumentation
Die Tatsache, dass Andersons Arbeit gewebt ist, lässt sie weicher, flexibler und formbarer erscheinen. Gleichzeitig folgt sie einem Muster, das aus Knoten besteht, die den Teppich im Wesentlichen zusammenhalten. Und hier kommt mir das knifflige Problem der Identität in den Sinn, das meiner Meinung nach den Kern seiner Praxis ausmacht. Es ist eine seltsame Art von Spiegel, wenn ich (Hore)Rorschach (Downward Dog) betrachte und versuche, meinen Platz zu verstehen, da ich mir wirklich nicht ganz sicher bin, ob ich hier der Beobachter oder der Beobachtete bin.
Eine weitere kleine Abschweifung:
When you look in the mirror
Do you see yourself?
Do you see yourself
On the T.V. screen?
Do you see yourself in the magazine?
When you see yourself
Does it make you scream?
„Identität“, X-Ray Spex
Do you see yourself?
Do you see yourself
On the T.V. screen?
Do you see yourself in the magazine?
When you see yourself
Does it make you scream?
„Identität“, X-Ray Spex
Das Selbst steht immer in Beziehung zum Anderen, wer auch immer der Andere ist. Und in Beziehung zum Anderen befindet sich das Selbst immer in einem Prozess der Entfremdung, einer Art Selbsttransformation. Wenn die suture eine Lücke ist, dann ist es die Lücke, die wir nicht sehen können, die uns aber eigentlich verbindet. Eine gewisse Gleichheit, die durch einen Unterschied verschleiert wird.
Das Selbst steht immer in Beziehung zum Anderen, wer auch immer der Andere ist.
Der Film „Suture“ von Scott McGehee und David Siegel aus dem Jahr 1993 erzählt eine solch unheimliche Geschichte der Selbsttransformation. Die Handlung von „Suture“ basiert auf der angeblichen Ähnlichkeit zwischen zwei Brüdern, Vincent und Clay. Vincent versucht, seinen eigenen Tod vorzutäuschen, indem er Clay tötet, doch Clay überlebt und wird nach dem Verlust seines Gedächtnisses allmählich zu seinem neuen Ich und tötet schließlich Vincent. Das mag wie ein gewöhnlicher Thriller klingen, wäre da nicht die Tatsache, dass der Film in einer Welt spielt, in der sich niemand des Rassenunterschieds bewusst zu sein scheint, oder der Rassenunterschied so vollständig in die kollektive Psyche integriert ist, dass er irgendwie vergessen wurde.
Noch eine kleine Abschweifung:
Die Quantentheorie findet in der Praxis eigentlich nur Anwendung in der subatomaren Welt. In der Welt der Gravitation, in der wir als Menschen leben, ist es nahezu unmöglich, irgendetwas von den Wechselwirkungen mit seiner Umgebung zu isolieren, insbesondere angesichts der zahllosen Billionen von Photonen, die ständig von jedem Objekt abprallen. Die Schwerkraft definiert die Struktur der Raumzeit, und keine der anderen Kräfte beschreibt die universelle Hintergrundgeometrie, in der wir leben, sowie die Krümmung der Raumzeit selbst.
Für Anderson setzt die Erschöpfung den Sinn in Zeit und Raum außer Kraft. Einige seiner Wandteppiche, zu denen in Black Exhaustion auch Co-Loss-Us (2023) gehört, werden buchstäblich von der Decke abgehängt, wo sie sich falten und dem Betrachter den Zugang zu allen Details verwehren. Der Moment der Aufhängung ist auch der Moment des Duchamp’schen infrathin, wenn eine Sache in die andere übergeht, aber noch nicht ausreichend definiert ist, um das Andere zu sein. Erschöpfung ist die Peripherie von etwas im Geist, die einen Horizont für eine neue Differenzierung schafft.
[1] Im Original “It is when you have found the word that concentrates around it the greatest number of threads in the mycellum that you know it is the hidden center of gravity of the desire in question […] the nodal point where discourse forms a hole.” Jacques Lacan, My Teaching, 2008, p. 28.
[2] Im Original: “the relation of the subject to the chain of its discourse […] it figures there as the element which is lacking, in the form of a stand-in. For, while there lacking, it is not purely and simply absent. Suture, by extension – the general relation of lack to the structure of which it is an element, inasmuch as it implies the position of taking-the-place-of.” Jacques-Alain Miller, Suture: Elements for a Logic of the Signifier, 1965, available online: https://www.lacan.com/symptom8_articles/miller8.html.
[1] Im Original “It is when you have found the word that concentrates around it the greatest number of threads in the mycellum that you know it is the hidden center of gravity of the desire in question […] the nodal point where discourse forms a hole.” Jacques Lacan, My Teaching, 2008, p. 28.
[2] Im Original: “the relation of the subject to the chain of its discourse […] it figures there as the element which is lacking, in the form of a stand-in. For, while there lacking, it is not purely and simply absent. Suture, by extension – the general relation of lack to the structure of which it is an element, inasmuch as it implies the position of taking-the-place-of.” Jacques-Alain Miller, Suture: Elements for a Logic of the Signifier, 1965, available online: https://www.lacan.com/symptom8_articles/miller8.html.